Ein Roman in sechs Episoden
Das Blaue Band umfaßt sechs in sich geschlossene Episoden, die sich, Szene für Szene, in einen psychologischen Zusammenhang einfügen, dessen Tragik sich dem Leser erst im allerletzten Moment enthüllt.
Sechs Episoden erzählen von Sehnsucht, Einsamkeit und Melancholie: Erwachsene Menschen suchen nach einem Ausweg aus der Einbahnstraße des Singledaseins und manövrieren sich und ihre Partner in seelische Grenzsituationen, die in Verzweiflung, Selbstmord, Vergewaltigung und Mord gipfeln.
Inhalt
Seelenblind
Wer gewinnt?
Frau ohne Geheimnis
Sekundenschlaf
Vergessene Geschwister
Echo ohne Schrei
Während einer Autofahrt resümiert ein Künstler seine Beziehung zu seiner ehemaligen Rechtsanwältin, die ihn mit ihrem Sozius betrog. Der Leidensdruck ist groß, er formuliert im Kopf eine Liebeserklärung in Form eines Briefes, den er seiner Exfreundin übermitteln möchte, um die Situation zu klären. Er fährt zu schnell, gerät in eine Radarfalle und wird geblitzt, wobei für den Leser unklar bleibt, was dieses Ereignis innerhalb des größeren Zusammenhangs bedeutet. Der innere Monolog des Ich-Erzählers wird äußerlich umrahmt von einer Unfallszene, die die Geschichte einleitet und abschließt. Am Ende der Geschichte stellt sich die Frage, ob es der Ich-Erzähler ist, der von der Straße abkommt und in einen Brückenpfeiler rast, oder ist er lediglich ein Beobachter?
Entwurf des Audiocovers:
Die Episode beginnt als innerer Monolog einer unglücklich verliebten Ärztin, die ihre unterdrückten Sehnsüchte in eine ausweglose Beziehung projiziert. Gefangen in der beengenden Situation einer Autofahrt ist das »Objekt der Begierde« zum Greifen nah – und doch bleibt es unerreichbar.
Sekundenschlaf führt den Leser mit einfachen, aber effektiven Mitteln aufs gedankliche Glatteis und läßt ihn durch eine sich selbst erzeugende Illusion in die »Freudsche Falle« tappen, die sich erst in den allerletzten Zeilen als solche entpuppt.
Entwurf des Audiocovers:
Leseprobe aus Sekundenschlaf:
»Angst?«
»Nein«, bekannte ich. »Jedenfalls nicht vor dem Tod, nicht vor meinem Tod. Ich habe Angst davor, Menschen zu verlieren. Ich habe Angst vor dem Zurückbleiben.« Im Medizinstudium, das kennst du ganz sicher aus den Erzählungen deiner Schwester, beginnt die Konfrontation mit dem Tod in den Hallen der Anatomie, sie nimmt ihren Lauf über die Organschau der Pathologen, um in den Horrorszenarien der Rechtsmedizin zu gipfeln. Im Studium also, als es um den fremden, den unpersönlichen, den steril analysierbaren Tod ging, konnte ich wunderbar abstrahieren, untersuchte alles Mysteriöse und Fabulöse mit wissenschaftlich exakter Schnittführung. Damals, ja, damals war ich ehrgeizig. Nein, mehr noch, ich war karrieregeil, und es fiel mir überhaupt nicht schwer, aus dem Tod eine Tugend zu machen, wenn es sich für mich lohnte. Aus steriler Entfernung betrachtet, mit blutig verschmierten Handschuhen, ist es ja so leicht, den Tod um des Lebens willen auszuschlachten. Du schaust ihm in die Augen. Du fühlst den moralischen Vorteil, den du dem Tod aberkennst, um ihn dir selbst anzueignen. Dein Kittel bleibt weiß, unbefleckt. Du handelst mit gutem Gewissen. Und doch ist es ein Handel. Eine gottverdammte Hybris ist das! Die ganze Wahrheit entdeckst du erst, wenn du die Grenze aus Blut und Knochen überschreitest, die Handschuhe ausziehst, auf Tuchfühlung gehst. Erst in dem Augenblick, da der Tod dir so nahetritt, daß du entscheiden mußt, ob er für dich Intimfeind oder Trauergast sein soll, dann, ja, dann kommst du in die Nähe einer Machtlosigkeit, die dir den tiefsten Sinn der Schöpfung aufzeigt. Der Tod eines geliebten Menschen, der persönliche Tod, läßt sich nicht auf Distanz halten. Er rückt ganz nahe. Er speit Flecken auf dein Gemüt. Er ist aufdringlich, bläst dir seinen fauligen Atem in den Nacken, wenn es ihm gefällt. Er harrt aus, bis du ihn sein läßt, was er ist: menschliche Notwendigkeit.
»Aha! Also doch: Angst vor dem Tod! Nur nicht vor dem eigenen.« Gut erkannt! Das erstaunte mich, ich sagte nichts. Dachte, was, wenn wir demnächst wieder einmal in deinem Auto sitzen, was, wenn du wieder alles riskierst, was, wenn der LKW-Fahrer auf der Gegenspur – übermüdet und schlaftrunken – zu schnell fährt, nicht ausweichen kann – Sekundenschlaf? Ja, du hast recht: seltsamerweise habe ich vor meinem Tod nie Furcht gehabt. Was mich aber vor Panik fast in den Wahnsinn treibt, sind meine Verlustängste. Angst vor Zurückweisung, Angst, mich dem anderen aufzudrängen, Angst vor der Einsamkeit, Angst vor Nähe, die weitere Verluste nach sich ziehen könnte und würde. Sekundenschlaf?! Würde ich deinen ausblutenden Körper in meinen Armen halten und starr sein und gefroren vor Angst? Würde ich wie immer zurückbleiben mit dem Umriß einer Erinnerung, die nicht einmal begonnen hat? Wäre es da nicht besser, gleich aus dem Wagen auszusteigen, zu gehen und nicht zurückzublicken? Absurd ist das sowieso, das zwischen uns, das eigentlich gar nichts ist, wieso nicht, weil keiner von uns auch nur wagte, es auszusprechen, weil es fremd ist, sich unsicher anfühlt, weil wir uns fürchten vor den Blicken der anderen, weil wir uns vor dem Unbekannten fürchten, weil wir verliebt sind und weil es nicht sein darf in unserer verklärten Vorstellung. Lächerlich ist das. Was ist nur los mit mir? Spürst du meine Zweifel?
»Ja, ich leide auch darunter.« Was meinst du damit?
»Mein Vater starb von eineinhalb Jahren. Ich weiß, wie das ist.«
Ja, jetzt erinnere ich mich. Du hattest mir am Telefon davon erzählt, gerade mal sechs Wochen ist es her, und ich dachte noch: das ist es also, das ist der Grund, weshalb ich mich von dir so sehr angezogen fühle. Es ist Verbundenheit, es ist Schmerz. Schmerz, ausgelöst durch die Tode, die uns begegnet waren.
Oberflächlich betrachtet, sind Lara und Laura lediglich »gute« Freundinnen. Im Laufe ihrer gemeinsamen Geschichte offenbart sich die innige Verbindung der beiden als homoerotische Abhängigkeit, die den Frauen jedoch nicht bewußt zu sein scheint. Erst, als eine dritte Person die Haßliebe der beiden bedroht, nimmt das Verhängnis seinen Lauf. In dieser Episode erschafft die Ich-Erzählerin durch die szenische Aneinanderreihung ihrer Beobachtungen ein ausgefeiltes Portrait der Hauptfigur Lara, als deren »gespiegeltes« Ich sie sich selbst empfindet. Dabei schreckt sie nicht davor zurück, die intimsten Eigenarten der Freundin zu enthüllen und jeden einzelnen ihrer Makel mit erbarmungslosem Detailblick zugleich bloßzustellen und zu verherrlichen.
Leseprobe aus Vergessene Geschwister:
[…] Wann immer ich an Lara denke, erinnere ich mich kaum mehr an ihr Gesicht. Dann tut sie mir leid. Ich glaube, es war blaß, eigentlich grau. Höchstwahrscheinlich hinterließ Laras Gesicht keinerlei Eindruck in meinem Gedächtnis, weil sich seine maskenhafte Mimik stets hinter dem dominanten Blau einer Designerbrille verbarg. Als Zeichen des längst vergangenen Wohlstands trug Lara ein randloses Escada-Modell mit intensiv blaugetönten Gläsern. Warum gerade Blau? Ist Blau nicht die Symbolfarbe der Romantik? Blau, die Farbe des Himmels, des Ozeans, Ausdruck einer ewigwährenden Suche nach unendlicher Weite, nach Überschreitung der Grenzen von Raum und Zeit? Blau als Ausdruck einer zum Scheitern verurteilten Suche nach Einheit und Liebe, nach der Geborgenheit im Mutterschoß? Wie kam es, daß Lara sich hinter der Farbe der Urweiblichkeit versteckte? War es eine nicht greifbare Angst vor dem Ertrinken in einer Welt, der sie sich nicht gewachsen fühlte? War es »la peur bleue«, die Furcht vor dem Ertrinken im Nichts? Warum gerade Blau, die Schutzfarbe der alten Matriarchate, Blau, der Widerpart zu dem männlich-marsianischen Rot, das hinaus ins Leben drängt, um mit seinem impulsiven Feuer die Welt zu entdecken?
Man könnte behaupten, Weiblichkeit und Romantik seien Schattierungen von Blau. Doch eben jene schattenhaften Ausdrucksformen fanden keinen Platz an Laras Seite. Mochte sie ihr Gesicht mit Blau verhüllen, darin baden, es sich auf die Fahne schreiben: Weiblichkeit blieb stets eine Schattierung von Blau, die Lara verleugnete. Ja, Blau war die Farbe, die Lara verleugnete, nicht umgekehrt. Und sie, Lara, ließ sich von der blauen Seite des Seins ignorieren. Lara war nicht weiblich, noch weniger war sie romantisch. Wie hätte der geringste Ausdruck von Weiblichkeit je von einem geschlechtlichen Neutrum ihres Zeichens Notiz nehmen sollen? Sie war ein Pol ohne Gegenpol. Es war, als müsse sich Lara unbewußt rächen an der lebensnahen Kraft einer physikalischen Übermacht. Es war, als trüge Lara das auffallende Blau als Mahnmal ihrer verkümmerten Sinnlichkeit mitten im Gesicht. Ihre Augen traten hinter der aufsehenerregenden Brille kleinlaut zurück. Ja, ich glaube sie waren tatsächlich blau. Oder grau? Jedenfalls waren sie klein und unwichtig, man bekam sie selten zu sehen. Manchmal, wenn Lara in einer Boutique ein Kleidungsstück anprobierte, sah ich sie minutenlang vor dem Spiegel stehen und posieren. Dabei verzog sie den Mund in unnachahmlicher Manier, sie schürzte die Lippen, warf den steifgefönten Kopf in den Nacken, hob die Brauen, wackelte mit dem Kopf, tänzelte, warf erst die eine Hüfte nach vorn, dann die andere, und schließlich wieder die eine, daß es mir eine Genugtuung war, diesem narzißtischen Treiben meinen Applaus zu verweigern, denn ich wußte es längst: Lara hatte sich aufgegeben. Sie hatte ihn verloren, den Kampf gegen das fatale Fehlen von Blau. […]
Anmerkung:
Ursprünglich galt Rot als eine männliche Farbe und damit als Gegenpol zu dem sanften (weiblichen) Blau und dem unschuldigen Weiß.
Zum Hintergrund der Blau- bzw. Rotsymbolik hier ein Zitat aus
Eva Heller, Wie Farben wirken, Rowohlt 1989:
»Bei der Frage nach der typisch männlichen und der typisch weiblichen Farbe denken wir heute an die Babyfarben Hellblau und Rosa. Als Ursprungsfarbe des Rosaroten wird Rot dem Weiblichen zugeordnet. Aber diese Babyfarben kamen erst um 1920 auf.«
Eine Frau zieht Bilanz: Aus sämtlichen Beziehungen, die hinter ihr liegen, ging sie als die Unterlegene hervor. Den traurigen Höhepunkt ihres Scheiterns bildet die emotionale Affäre mit dem Oberarzt William, der sie vergewaltigt. Die Frau ist kurz davor, sich das Leben zu nehmen, als sich das Blatt wendet. Sobald sich die Protagonistin auf ihre innere Stärke besinnt und sich aufmacht, eine ausgleichende Gerechtigkeit zu erzwingen, verkehren sich die Machtverhältnisse: Der Vergewaltiger wird zum Opfer, nämlich zu einem Opfer seiner pervertierten Moralvorstellungen.
Hörprobe aus Wer gewinnt?
Auf den ersten Blick scheint Patricia eine gewöhnliche Hausfrau mit zwei Kindern zu sein, die nach dem Scheitern ihrer Ehe ein neues Glück sucht. Doch in Wahrheit ist die brave Hausfrau Patricia eine scheinheilige Opportunistin, die sich jede Woche von einem anderen, gesichtslosen Mann beschlafen läßt, ihre Freunde ausnutzt und ganz nebenbei ihren Sohn verprügelt. Doch gerade, als die Ich-Erzählerin den moralischen Zeigefinger erheben will, findet sie sich in einer prekären Lage wieder, in der sie nicht den kleinsten Funken Zivilcourage aufbringt.
In der letzten Episode treffen wir einen Mann und eine Frau auf einer geschlossenen psychiatrischen Station. Die beiden hatten eine kurze Affäre, der Mann, ein Arzt, der im Vollrausch eine Frau tötete, erinnert sich jedoch nur vage an das Gesicht seiner Mitpatientin. Im Verlauf des Gespräches versucht der Mann, der in der Nacht zuvor in die Geschlossene eingeliefert wurde, herauszufinden, woher er sein Gegenüber kennt. Als er endlich realisiert, mit wem er es zutun hat, droht die Frau, ihn bloßzustellen. Damit ist die finale Katastrophe vorbezeichnet.